SCHMERZ: Hoch hinaus
Wegen einer chronischen Erkrankung auf Abenteuer verzichten? Für Julia Lauer ist das keine Option. Gerade plant die junge NMOSD-Patientin eine Expedition ins Himalaya-Gebirge.
Julia Lauer braucht keine zwanzig Minuten, um Tausende Höhenmeter zu überwinden. Sie steigt dafür nicht auf einen Berg, sondern in die S-Bahn Richtung München-Pasing: Dort gibt es ein spezielles Trainingszentrum, im dem sie ihren Körper an extreme Bedingungen gewöhnen kann. »Zweimal pro Woche trainiere ich in der Höhenkammer und atme dabei durch eine Maske Luft mit reduziertem Sauerstoffgehalt ein«, erzählt die 29-Jährige. So wachsen nicht nur Waden und Bizeps, auch die Anzahl der roten Blutkörperchen nimmt zu. Das hilft dabei, die Muskulatur in der Höhe mit mehr Sauerstoff zu versorgen. Das Höhentraining ist ein kleiner, aber wichtiger Teil der Vorbereitungen für Julias nächstes Abenteuer: eine Reise zum Dach der Welt. In Nepal will sie den Island Peak erklimmen, 6.189 Meter ragt er in die Höhe. Solche Gipfel sind selbst für kerngesunde und fitte Menschen eine große Herausforderung.
Rätselhafte Symptome
Julia ist fit. Unter ihrem Shirt zeichnen sich drahtige Muskeln ab, in ihrer Freizeit klettert und bouldert sie viel, geht zum Bergsteigen und wandert oft. Gesund aber ist sie nicht: Vor knapp vier Jahren spielte ihr Körper plötzlich verrückt. Sie nahm stark ab, fühlte sich schlapp und schwach, bekam brennende Schmerzen im Bein und massive Sehstörungen auf dem rechten Auge.
Die Ärzte sind zunächst ratlos, von Diabetes über einen Tumor bis hin zu Multipler Sklerose stehen viele Diagnosen im Raum. Letzteres erschien ihr denkbar: »Meine Mutter hat diese Erkrankung und ich habe beruflich viel mit Betroffenen zu tun. Deshalb kenne ich die Symptome sehr genau«, sagt sie. Julia ist Logopädin, arbeitet in der neurologischen Abteilung einer Klinik. Doch die Untersuchungen bestätigten den Verdacht nicht: Eine Lumbalpunktion war unauffällig, MRT-Aufnahmen ihres Gehirns zeigten keine typischen Läsionen. Dafür aber eine Entzündung der Sehnerven. Die Ärzte verordneten Schmerzmittel, Kortison und Physiotherapie, doch weder die Spastiken in den Beinen noch die Sehprobleme besserten sich dadurch nachhaltig. »Das war eine sehr zermürbende Zeit«, sagt sie. Es sollten noch zwei Jahren vergehen, bis sie endlich die richtige Diagnose erhält: Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankung, kurz NMOSD.
NMOSD: Selten und kaum erforscht
Die meisten Menschen haben noch nie von dieser Erkrankung gehört. Lange galt sie als besonders schwere Form der Multiplen Sklerose, weil es einige Parallelen zwischen den Erkrankungen gibt – der schubweise Verlauf zum Beispiel, die Sehstörungen oder die Tatsache, dass es sich um eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems handelt.
Mittlerweile aber ist klar, dass NMOSD eine eigenständige Erkrankung ist. Andere Immunreaktionen spielen dabei eine Rolle, Sehnerven und Rückenmark sind häufiger betroffen als das Gehirn. Und im Unterschied zur MS verbessern sich die Symptome nicht nennenswert nach einem Schub. Bisher ist NMOSD nicht gut erforscht, eine Heilung ist noch nicht möglich. »Das zu erfahren war ganz schön niederschmetternd«, erinnert sich Julia. Unterkriegen lassen aber will sich die junge Frau nicht. Zumal die Therapie ihre Situation verbessert: Die verordneten Immunsuppressiva schlagen an, die Schmerzen in den Beinen werden weniger, ihre Sehkraft nimmt zu. Sie kann arbeiten und endlich auch wieder zu ihrem geliebten Sport gehen. Mit jedem Kletterzug kehren etwas Mut und Selbstvertrauen zurück.
Neues Leben, alte Träume
Ganz langsam beginnt sie, die Erkrankung zu akzeptieren und das Beste daraus zu machen. Das Leben mit einer chronischen Erkrankung vergleicht sie gerne mit dem Leben in einer WG: »Man hat ein eigenes Leben und entscheidet vieles selbst, aber man muss auch oft Kompromisse machen.« In dieser Zeit kommt ein neues Tattoo auf ihrem linken Arm dazu, sie lässt sich den Satz »It is what it is« unter die Haut stechen. Es ist, was es ist. »Natürlich hat sich durch die Erkrankung alles verändert. Aber ich bin trotzdem jung und will mein Leben leben«, sagt sie. Dazu gehört für sie auch, sich nicht von Sorgen auffressen zu lassen. »Mein Körper kann mir Grenzen setzen. Aber Angst soll mich auf keinen Fall stoppen.«
Deshalb hat sie beschlossen, ihre alten Träume von einer Reise in den Himalaya weiter zu verfolgen. Für sich selbst, aber auch um mehr Aufmerksamkeit für die seltene Erkrankung zu schaffen. Denn NMOSD ist eher unbekannt. Und Julia befürchtet, dass auch andere Betroffene lange auf die richtige Diagnose warten müssen. Dabei wäre ein frühzeitiger Behandlungsbeginn wichtig, um etwa das Risko für eine Erblindung zu reduzieren. In Deutschland haben schätzungsweise dreitausend Menschen NMOSD, darunter deutlich mehr Frauen als Männer. »Und Frauen werden mit ihren Beschwerden oft nicht sofort ernst genommen, da wird vieles erstmal auf die Psyche geschoben«, sagt Julia Lauer. Deshalb will sie sich für mehr Aufklärung stark machen. Ähnlich wie bei der MS können Verlauf und Symptome der NMOSD stark variieren – die
Beschreibung als »Krankheit mit tausend Gesichtern« trifft daher auf beide Erkrankungen zu.
Es geht nicht um den Gipfel
Julia ist nun eines dieser Gesichter: Grüne Augen, gerötete Wangen, blonde Strähnen in der Stirn und ein Mund, aus dem die Worte besonders schnell purzeln, wenn es um ihre Leidenschaft geht: die Berge. In wenigen Wochen beginnt die Reise, fast einen Monat lang wird sie unterwegs sein, ein Freund begleitet sie. Sie hat sich akribisch vorbereitet, viel trainiert, zur Vorbereitung einige Viertausender bestiegen. Aber um den Gipfel, sagt sie, gehe es gar nicht. Sondern um das Erlebnis: »Ich will das Land sehen und die Leute treffen, die Aussicht genießen, das Essen probieren, die Eindrücke aufsaugen, mich herausfordern.«
Aber was, wenn es doch zu viel ist? Wenn ihre Sehkraft schwindet oder das Bein nicht mitmacht? Natürlich hat sie sich diese Fragen gestellt. Und klar, im Zweifel muss sie die Aktion abbrechen, zur Not mit einem Helikopter vom Berg geholt werden. Sie hat die Fragen auch schon für eine Zeitung beantwortet, die über ihr Vorhaben berichtete. In der Kommentarspalte sammelte sich damals viel Kritik: Verantwortungslos, fahrlässig und zum Scheitern verurteilt sei die Reise. Und überhaupt solle sie doch lieber zu Hause bleiben. Das hat sie erst betroffen und dann wütend gemacht. »Ich habe viel Erfahrung, bin sehr gut vorbereitet und meine Ärzte und Trainer unterstützen mich. Warum also nicht?« Zu Hause bleiben wird Julia sicher nicht, in wenigen Wochen geht es los. Ihre Vorfreude und Abenteuerlust sind spürbar. Sie streicht über das Tattoo auf ihrem linken Arm. It is what it is. Und im Moment, da ist es ziemlich gut.