Grundlagen der Erkrankung
Bei jedem Betroffenen anders – Formen der MS
Die Multiplen Sklerose ist die «Krankheit mit den 1000 Gesichtern», Denn Im Einzelfall ist der Krankheitsverlauf nur schwer vorhersagbar. Die Bandbreite der Krankheitsverläufe reicht von einem einzigen Schub mit nur geringer neurologischer Symptomatik bis hin zu rasch progredienten Verlaufsformen und dem Eintreten einer schweren Behinderung.
Die Multiple Sklerose wird in drei Verlaufsformen unterteilt:
- Der schubförmige Verlauf: Diese Verlaufsform ist durch klare Schübe charakterisiert. Die Schubsymptomatik kann sich vollständig zurückbilden oder es können Störungen bestehen bleiben. Im Intervall, also zwischen den Schüben, schreitet die Erkrankung nicht fort.
- Der primär chronisch progrediente Verlauf: Diese Verlaufsform ist der ungünstigste Verlauf. Hierbei kommt es zu einer voranschreitenden (=progredienten) Verschlechterung der Symptomatik von Krankheitsbeginn an. Es ist möglich, dass gewisse Erholungsphasen eintreten.
- Der sekundär chronisch progrediente Verlauf: Initial besteht bei diesem Erkrankungsverlauf eine schubförmige Symptomatik, welche später in einen progredienten Krankheitsverlauf mündet. Es ist möglich, dass in die progressive Verschlechterung noch Schübe eingelagert sind.
Zu Krankheitsbeginn überwiegt der schubförmige Verlauf mit einer Häufigkeit von etwa 90 %. Etwa 10 % der Patienten haben einen primär chronisch progredienten Verlauf. Nach einer initial schubförmigen Verlaufsform kommt es nach 10 bis 15 Jahren bei etwa 30 bis 40 % zu einem sekundär chronisch progredienten Verlauf.
Vieles ist unbekannt – schubauslösende Faktoren
Verschiedene schubauslösende Faktoren werden immer wieder diskutiert. Aus den vielen Möglichkeiten scheinen Stress in seinen Varianten und auch eine Schwächung der Immunlage bedeutsam zu sein. Zu warnen ist vor der Einnahme von Immunstimulantien – diese sind sicher geeignet, einen Schub auszulösen.
Zur Pathophysiologie der Multiplen Sklerose ist als Fazit davon auszugehen, dass es nicht DEN Auslöser für das Auftreten der Erkrankung gibt. Vielfältige, soeben besprochene Einflussfaktoren sind an dem Entstehungsprozess der Multiplen Sklerose beteiligt. Inwieweit eine psychische Disposition am Auftreten der Erkrankung beteiligt ist, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt von der Wissenschaft noch nicht abschließend beantwortet.
Zum besseren Verstehen – kleine Neurologie-Schule
Das zentrale Nervensystem eines Menschen besteht aus 300 – 500 Milliarden Nervenzellen. Jede einzelne Nervenzelle ist zusammengesetzt aus einem Zellkörper, der über Hunderte von Zellfortsätzen (Dendriten) mit anderen Nervenzellen in Kontakt tritt. Jede Nervenzelle hat darüber hinaus einen Haupt-Nervenzellfortsatz, der Axon genannt wird.
Der Aufbau der Nervenfaser (Axon) zeigt, ähnlich einem Elektrokabel, einen Leiter für die elektrische Erregung und zum Schutz – außen herum – eine Isolierungsschicht. Diese Isolierung wird aus Myelin (fettreiche Biomembran) gebildet und wird auch als Myelin-Schicht oder Myelin-Scheide bezeichnet.
Das fehlgeleitete Immunsystem – Ursachen von MS
Der Krankheitsmechanismus bei der Multiplen Sklerose besteht darin, dass die Myelin-Schicht (Isolierung) in mehr oder minder großem Ausmaß geschädigt wird und damit die elektrische Weiterleitung von Nervenimpulsen unterbrochen wird. Im Alltag kann man die Folge dieser Schädigungen bei elektrischen Kabeln als Kurzschluss auffassen. Ferner kommt es zu einer Schädigung des Axons, also der Kupferlüster, wenn wir bei der Analogie zum Kabel bleiben. Untersuchungen haben gezeigt, dass insbesondere während des akuten Krankheitsgeschehens die Axone geschädigt werden. Dies unterstreicht die Notwendigkeit einer raschen und konsequenten Behandlung während eines Schubs.
An der Entstehung der MS sind gegen körpereigenes Gewebe gerichtete Abwehrzellen (T- und B-Lymphozyten), entzündungsfördernde Botenstoffe (Zytokine) und aktivierte Fresszellen (Monozyten/Makrophagen) beteiligt.
Begleitend werden Veränderungen an den Gefäßen im Gehirn festgestellt, die Blut-Hirn-Schranke ist gestört, sodass die fehlgeleiteten Abwehrzellen die Blutgefäße verlassen können und in das Gehirn eindringen und Teile des Zentralnervensystems schädigen.
Bei der Multiplen Sklerose handelt es sich um eine Erkrankung, die die Myelinscheiden von Nervenbahnen angreift (Demyelinisierung). Die Demyelinisierung (führt dazu, dass eine schnelle Übermittlung von Impulsen nicht mehr möglich ist. Dies erklärt die raschere Erschöpfbarkeit vieler MS-Patienten bei körperlicher Aktivität.
Die Demyelinisierung führt aber auch dazu, dass Erregungen zwischen direkt nebeneinander liegenden Axonen übertragen werden können. Dies wird als Ephapse bezeichnet und ist die Erklärung für das s.g. Lhermitte-Zeichen (elektrisierende Missempfindungen bei Kopfbeugung). Ein weiteres Phänomen ist die temperaturabhängige Verstärkung oder das Auftreten von neuen Symptomen bei erhöhter Körpertemperatur (Uhthoff-Phänomen).
Bei Normalisierung der Körpertemperatur bilden sich die Symptome wieder zurück.
Verlorenes kann nicht mehr aufgeholt werden - der Krankheitsverlauf
Für den Krankheitsverlauf der Multiplen Sklerose kann insgesamt formuliert werden: Was verloren ist, kann nicht mehr aufgeholt werden. Durch moderne Therapieformen ist heute jedoch möglich, im Krankheitsverlauf leichte Verbesserungen zu erreichen und vor allen Dingen eine natürlich zu erwartende kontinuierliche Verschlechterung durch die Erkrankung unterschiedlich lange zu verhindern.
Wichtig zu wissen ist, dass nicht nur das aktuell auffallende Symptom Zeichen der Erkrankung ist. Viel mehr als das äußerlich (klinisch) feststellbare spielt sich unterhalb der so genannten klinischen Schwelle ab und wird vom betroffenen Patienten nicht bemerkt . Dieser unterschwellige Prozess ist vom Untersucher nur durch weitere Messmethoden feststellbar.
Die Darstellung zeigt, dass auch bei nur wenigen abgelaufenen Schüben bereits Ressourcen vernichtet wurden und irreparable Schäden aufgetreten sind (roter Kreis). In der Regel schon vor der Diagnosestellung sind Axone unwiederbringlich geschädigt. In der rechten Abbildungshälfte macht deutlich, dass mit zunehmender Schädigung die klinische Schwelle überschritten wird und bleibende Defekte sich einstellen. RRMS (relapsing-remitting) steht für die schubförmig verlaufende MS, SPMS steht für die sekundär-progredient verlaufende MS.
Grund für die zunehmende Defektheilung, für die zunehmende Behinderung und die Überschreitung der klinischen Schwelle ist der fortschreitende Verlust an Nervenfasern. Dieser wird im Laufe der Erkrankung immer bedeutsamer und überlagert zunehmend die anfänglich dominierende Entzündung (Schübe).
Die Folie beschreibt den zeitlichen Verlauf der MS von links nach rechts. Auf der linken Seite steht das klinisch isolierte Syndrom, auch CIS genannt. Hierbei handelt es sich um die erste Auffälligkeiten einer entzündlichen demyelinisierenden Erkrankung des zentralen Nervensystems, ohne dass eine eindeutige Diagnose bereits feststeht. Das klinisch isolierte Syndrom kann in eine MS übergehen. In mehreren Studien konnte gezeigt werden, dass eine frühe Basistherapie (z.B. mittels Interferon-beta oder Glatirameracetat) die Wahrscheinlichkeit von einem CIS zur MS reduzieren kann. Die gestrichelte Linie, zeigt die klinische Schwelle, ab der die Betroffenen zum ersten Mal deutliche Symptome bemerken. Es zeigt sich, dass insbesondere in der Frühphase der Erkrankung eine deutliche Krankheitsaktivität besteht (dunkelblauen Pfeile). Dass nicht alle Pfeile die klinische Schwelle überschreiten bedeutet, dass viele Patienten mit einer Erstsymptomatik (z.B. Sehschwäche) in die Praxis kommen und bereits zahlreiche Herde in der Kernspintomographie aufweisen.
Ziel der Therapie muss also sein, den weiteren Untergang von Nervenfasern und neue klinischen Symptome zu verhindern. Neben der Krankheitsaktivität spielen die aktiven Entzündungen (hier dargestellt durch die roten Punkte) ebenfalls in der Frühphase eine große Rolle. Die entzündliche Aktivität lässt im weiteren Krankheitsverlauf nach. Beides, also die hohe Krankheitsaktivität und die Entzündungsaktivität in der Frühphase der Erkrankung zeigen, dass eine möglichst frühe Behandlung notwendig ist.
Der Erkrankungsverlauf der Multiplen Sklerose gestaltet sich in unterschiedliche Phasen. So ist der Beginn der Erkrankung in den meisten Fällen durch ein starkes entzündliches Geschehen charakterisiert. Daneben treten Reparaturmechanismen auf. Im Verlauf der Erkrankung nimmt die Reparaturkapazität immer mehr ab. Auch zeigt sich, dass die Entzündungsaktivität im Erkrankungsverlauf weniger intensiv ist. Demgegenüber kommt es zu einer zunehmend stärkeren neurodegenerativen Komponente (Nervenzelluntergang) der Erkrankung. In dieser Phase ist die Erkrankung immer schlechter zu therapieren.
Es wird damit deutlich, dass eine frühe und konsequente Therapie der MS unbedingt notwendig ist, um den Erkrankungsverlauf hinauszuzögern und ein Abgleiten in den neurodegenerativen Verlauf der Erkrankung zu verhindern.
Heute ist bekannt, wie eine unbehandelte MS verläuft. In zahlreichen Studien konnte gezeigt werden, dass die derzeitig zur Verfügung stehenden Medikamente sehr effektiv sind. Es war aber auch festzustellen, dass eine verspätete Behandlung zwar auch wirksam ist, aber der Abstand zu einem frühen Behandlungsbeginn nicht mehr aufgeholt werden kann. Dies zeigt sich hier einerseits an dem natürlichen Krankheitsverlauf, der rötlich untermalt ist. Die Grafik stellt dar, wie unterschiedlich sich eine Behinderung im Laufe der Zeit (Jahre) entwickelt. Durch das Ansteigen der Kurve ist die zunehmende Behinderung symbolisiert. Die violette Kurve zeigt den Verlauf bei einem späteren Therapiebeginn. Es ist gut erkennbar, dass die Therapie wirkungsvoll ist, aber lange nicht so effektiv wie im Falle einer frühen Therapie, also der blau unterlegten Kurve. Im Idealfall wird bereits nach einem klinisch isolierten Syndrom mit der Behandlung begonnen.
Vielfältiges Störungsmuster – die Symptome
Zu den frühen Symptomen gehören Sehstörungen mit Ausfällen im Gesichtsfeld auch vorübergehend auftretende Doppelbilder können dazu gehören, ebenso wie mehr oder minder ausgeprägte Lähmungserscheinungen, die unterschiedlich lang anhalten können. Gefühlsstörungen sind ebenfalls einhäufiges Frühsymptom der Multiplen Sklerose. Durch Sensibilitätsstörungen und Lähmungen kann ein unsicheres Gehen bzw. Schwanken verursacht werden.
MS ist eine Erkrankung, die verschiedene Areale, wie Großhirn, Kleinhirn, Hirnstamm, Rückenmark und Sehnerv beeinträchtigt und damit unterschiedliche Symptome auslöst.
Zu Beginn der Erkrankung treten häufig als erstes Symptom, Sehstörungen auf.
Viele MS-Patienten klagen über anhaltende Missempfindungen, die sich als Taubheit und Pelzigkeit, besonders in Händen und Füßen, äußern können. Oft ist die Berührungsempfindung herabgesetzt und die Tasterkennung aufgehoben. Durch die Beeinträchtigung des Lageempfindens, insbesondere der Beine, kommt es zu Unsicherheiten beim Gehen und zu einer Störung der Feinmotorik.
Auch kommt es zu Lähmungen sehr unterschiedlicher Ausprägung (zentrale Paresen). Das Spektrum möglicher Lähmungen reicht von einer leichten Schwäche der Hand bis zum kompletten «Gelähmtsein» eines ganzen Armes, eines ganzen Beines, einer kompletten Körperseite oder einer Querschnittsymptomatik.
Ein weiteres Symptom ist die sogenannte Spastik. Dabei handelt es sich um eine Erhöhung der Muskelspannung (Tonus), die zu einer Verschlechterung der Beweglichkeit führen kann.
Im Verlauf der Erkrankung kommt es bei mindestens der Hälfte aller MS-Patienten zu Blasenentleerungsstörungen. Diese Beschwerden können sich äußern in einem zwanghaften Harndrang, einer s. g. Dranginkontinenz, oder auch einem deutlich verzögerten Wasserlassen. Blasenstörungen werden von den Patienten als äußerst belastend erlebt und stören die Tagesroutine erheblich. Oft ist ein sozialer Rückzug die Folge.
Sexuelle Fehlfunktionen treten bei vielen MS-Patienten auf. Zum Beispiel ist bei sensiblen Störungen in der Genitalregion (Taubheit, Missempfindung) eine normale sexuelle Stimulation oft nicht mehr möglich; beim Mann kann es zur Erektionsschwäche kommen.
Akute und chronische Schmerzen, die oft nur schwer medikamentös behandelbar sind, stellen bei zahlreichen MS-Patienten das Hauptsymptom dar. Einschießende Gesichtsschmerzen, brennende Schmerzen der Arme und Beine, elektrisierende Gefühle in den Extremitäten beim Beugen des Kopfes nach vorne können Zeichen einer akuten Schmerzsymptomatik bei MS sein.
Bei der Mehrzahl der MS-Patienten auch psychische Veränderungen zu beobachten. So zeigen MS-Kranke oft eine periodisch auftretende auffällige euphorische Stimmungslage und eine nicht erklärbare Heiterkeit.
Das Müdigkeitssyndrom (Fatigue) ist oft das unangenehmste Symptom bei MS. Manchmal tritt eine Müdigkeit bei MS auf, die einem «Kurzschluss» gleicht. Arme und Beine werden wegen des Myelin-Verlustes schwach. Nach entsprechenden Ruhephasen erholen sich die Betroffenen von dieser speziellen Form der Müdigkeit meist recht schnell. Fatigue wird auf der körperlichen, emotionalen und kognitiven Ebene wahrgenommen. Das bedeutet, dass das Denken, Empfinden und Handeln durch das Müdigkeitssyndrom beeinflusst wird und damit leicht zur sozialen Isolation führt.
In der täglichen klinischen Praxis ist für Patienten mit MS das s. g. Uhthoff-Phänomen kennzeichnend. Es treten Leistungsverschlechterungen der geschädigten Nerven bei erhöhter Körpertemperatur und erhöhter Außentemperatur auf, was zur Verschlechterung bereits vorhandener Symptome führt. Im Extremfall führt es dazu, dass sich der Patient nicht mehr selbstständig aus der heißen Badewanne erheben kann. Das Wissen um das Uhthoff-Phänomen ist für die vorbeugende Verhaltensberatung von MS-Patienten sehr wichtig.
Es gibt eine Vielzahl von weiteren Symptomen, die bei einer Multiplen Sklerose auftreten können, hier aber nicht alle im Detail beschrieben werden sollen.